Ablösung Jugendlicher – Familien mit Ablösungsproblemen
Ablösungsvorgänge beschreiben einen Teil eines Beziehungsprozesses, der sich zwischen zwei Parteien – Eltern und Kinder – abspielt und allmählich in Richtung auf gegenseitige Selbst-Entwicklung und Differenzierung im emotionalen, kognitiven und moralischen Bereich führt. Entsprechend dem Konzept des familiären Lebenszyklus (Stierlin) lässt sich die Entwicklungsphase der Ablösung als eine Übergangsphase charakterisieren, in der sowohl emotionale Übergangsprozesse von der Familie und vom einzelnen akzeptiert werden müssen als auch entwicklungsmäßige Veränderungen. Für den Adoleszenten bedeutet die Loslösung von den Eltern „die Kindheits-Identität“ aufzugeben und den damit verbundenen Schutz der ihm bisher zuteil wurde. Er wird im Rahmen des Ablösungsprozesses damit konfrontiert, alte und neue Loyalitätsbindungen (Boszormenyi-Nagy) in Einklang zu bringen. Für die Eltern bedeutet die Loslösung von den Kindern, zumindest einen Teil ihrer „Eltern-Identität“ aufzugeben, nämlich die bisherige starke Ausrichtung am Leben der Kinder. Auch sie werden vor die Tatsache gestellt, neue, vom Leben der Kinder weitgehend unabhängige Werte zu suchen. Eltern müssen während der Ablösesituation ihr Ehepaarsystem als Dyade neu verhandeln, eine neue Wertebestimmung der Paarbeziehung finden und sich Klarheit verschaffen über bestehende Loyalitätsbeziehungen.
Auf systemischer Ebene werden Jugendliche und Eltern im Ablöseprozess mit (interpersonellen) Konflikten konfrontiert, die sich aus der Unterschiedlichkeit in den Bedürfnissen und Wünschen beider Teile ergeben. Konflikte, die daraus entstehen, können nur dann gelöst werden, wenn die Grenzen des Systems für neue Erfahrungen und Wahrnehmungen geöffnet werden. Eine teilweise Verwischung der Generationsgrenzen während dieser Übergangsperiode ist funktionell lebensphasisch. Sie bildet den Grundstock für die Transformation einer komplementären (hierarchischen Beziehung) in eine symetrische Beziehung (gleichberechtigte partnerschaftliche Beziehung) zwischen Eltern und Kindern. Die Um- und Neuorientierung sowohl auf intrapsychischer als auch auf interpersoneller und systemischer Ebene ermöglicht beiden Teilen, Eltern und Kindern sich entwicklungsadäquat voneinander zu lösen, d.h. eine neue reife Form der Beziehung in Form des Dialogs einzugehen (Bezogene Individuation).
Pathologie und Prädiktoren
Die Entwicklungsphase der Ablösung wird, wie die Praxis zeigt, häufig zum Kristallisationspunkt für psychopathologische Störungen Jugendlicher und mit zum Ansatzpunkt für unsere psychiatrische und psychotherapeutische Interventionen. Empirische Befunde zeigen, dass eine Familie während dieser Phase für eine Symptombildung bzw. eine psychische Störung anfällig ist, sofern es ihr nicht gelingt, Kommunikationsmuster, Rollenverteilungen und ihre affektive Struktur den Entwicklungsbewegungen des Jugendlichen gemäß zu verändern. Familiäre Einflussfaktoren, die in der entwicklungspsychologischen und vorwiegend systemischen Literatur als Prädiktoren für eine misslingende Ablösung diskutiert werden, sind einerseits Störungen im Rollenverhalten auf interpersoneller Ebene, d.h. Verletzungen der Generations- und Geschlechtsgrenzen auf Eltern-Kind-Ebene und andererseits Grenzstörungen auf systemischer Ebene, d.h. auf der Ebene der Familie als Ganzes. Diese „pathogenen“ Organisationsstrukturen halten das rigide, starre Familiensystem und das damit verbundene labile funktionale Gleichgewicht aufrecht. Der Aufbau emotionaler und kognitiver Diskrimination der einzelnen Mitglieder wird jedoch dadurch behindert. Es kommt zu keiner Festlegung eigener Standorte und zu einer Verwischung emotionaler Differenzierungen.
Empirische Forschungsarbeiten zur Ablösungsthematik zeigen, dass „Kinder“ in diesen Familien häufig die Sorgerolle für die Eltern übernehmen. Dabei dürften sie ihre Eltern sehr genau beobachten und ihnen bei Bedarf als Tröster zur Verfügung stehen. Diese Eltern-Kind-Grenzstörung (Parentifizierung) kann als ein zentraler Konfliktpunkte von Familien mit Ablöseproblemen gedeutet werden und damit als ein wichtiger Ansatzpunkt für die psychotherapeutische Arbeit. Empirisch-entwicklungspsychologische Befunde zeigen auch, dass Jugendliche, die negative, konflikthafte Gefühle, verbunden mit ihrer Ablösung von den Eltern hatten, bedeutsam schlechter in die Außenwelt der Familie integriert waren, als Jugendliche, die über positive Trennungsgefühle berichteten. Der Faktor „Außenkontakte“gilt als zentraler Indikator einer gelungenen Ablösung (Lopez).
Nach neueren Untersuchungen (2004) scheint sich die Ablösung von den Eltern auch weiter hinauszuzögern. Verlängerte Aufenthalte in Bildungssystemen, Zunahme von Singlehaushalten, höheres Heiratsalter, späterer Berufsantritt u. ä. sind zu beobachten. Klassische Stationen wie der Auszug aus dem elterlichen Haushalt, finanzielle Eigenständigkeit, der Abschluss einer beruflichen Ausbildung und die Gründung einer eigenen Familie sind nicht mehr generell zur Definition der Ablösung gültig. Diese Ablösungsschritte stellen Indizien für den Prozess dar, erfolgen durch die verlängerte Jugendphase jedoch zeitversetzt und in abgewandelter Bedeutung (Achatz). Ein Hintergrund mit perspektivlosen Aufenthalten in Bildungssystemen und anschließender Arbeitslosigkeit erschwert zusätzlich die Entwicklung einer erwachsenen Ich-Identität und einer gelungenen Ablösung.